Ja, Meinungsfreiheit kann auch wehtun. Wer sich, wie ich, der Öffentlichkeit zeigt, muss damit rechnen, attackiert und auch verletzt zu werden. Ich habe mir im Laufe der Jahrzehnte ein dickes Fell wachsen lassen. — Das klingt einfacher, als es ist.
Ich wollte immer Schriftsteller werden. Als meine Freunde noch davon träumten, Piratenkapitän zu werden, stand mein Berufswunsch schon fest. Ich habe jedem, der es wissen wollte, davon erzählt.
Ich wurde viel ausgelacht. Von Kindern und von Erwachsenen. Wenn jemand seinem Traum folgt, muss er Spott ertragen können. Manchmal tat das weh.
Meine ersten Geschichten erschienen in den großen Tageszeitungen und in Anthologien; da war ich noch Schüler. Öffentlicher Kritik war ich von Anfang an ausgesetzt. Es gibt mehr als 10.000 Zeitungsberichte über mich und mein Werk, die ich gesammelt habe. Natürlich sind nicht alle positiv. Jeder darf alles, was ich tue, blöd finden und das auch öffentlich sagen. Niemand muss meine Bücher lesen oder meine Filme sehen. Das Fernsehen hat zum Glück einen Knopf zum Ab- und Umschalten.
Wenn ein neuer Roman von mir erscheint, bekomme ich in den ersten Wochen täglich 250 bis 350 Leserbriefe. Dazu kommen Facebook-Nachrichten usw. Manchmal schwimme ich im Lob, fühle mich geradezu getragen von den Fans, dann wieder hagelt es heftige Kritik. Oft wechselt dies im Halbstundentakt. Ich bin also einiges gewohnt.
Trotzdem habe ich mich jetzt zum ersten Mal im Leben entschieden, gerichtlich gegen eine Schmähschrift vorzugehen.
In den letzten Jahren hat sich viel verändert. Durch das Internet ist der Ton insgesamt rauer, ja, verletzender, geworden. Hassattacken lassen sich als „Tarzan 17“, „Carpe Diem“ oder „Tom Brook“ anonym gefahrlos verbreiten. Da wurde meiner Frau zum Beispiel kurz nach unserer Hochzeit ein Frauenhaus empfohlen und ich als gefährlicher Psychopath hingestellt, der dringend in psychiatrische Behandlung gehöre. Um meine Kinder solle sich endlich das Jugendamt kümmern.
Wer so etwas verbreitet, fühlt sich durch Datenschutz ziemlich sicher. Also geht es munter weiter. Da setzt eine Person – deren richtigen Namen ich nicht kenne – 104 üble Kommentare im Internet gegen mich ab. Alle immer so gerade haarscharf an der Grenze, dass man sich fragt, ist das schon justiziabel oder nicht?
Inzwischen haben wir es in einigen Zeitungsredaktionen bereits mit einer neuen Generation von Redakteuren zu tun, die sind mit dem Internet sozialisiert worden, haben also eine enthemmte Sprache, einen ruppigen Umgangston, als Normalität kennengelernt. Dadurch ist ihre Sensibilität für das, was geht oder nicht geht, herabgesetzt. So erklärt es sich für mich, dass auch zunehmend Leserbriefe gedruckt werden, die man, als ich noch in einer Lokalredaktion gearbeitet habe, niemals gedruckt hätte. Herr Gerdo Brauer kommentierte einen Artikel in der Ostfriesen-Zeitung online:
„Herr Wolf, wir brauchen Sie hier nicht und wir können auf Sie verzichten! Gehen Sie dahin zurück, wo Sie hergekommen sind.“
Ich habe das an mir abtropfen lassen und nicht darauf reagiert. Offensichtlich war das ein Fehler, denn einige Wochen später veröffentlichte eben dieser Gerdo Brauer einen Leserbrief in dem von „integrationsunfähigen NRWlern“ geredet wurde, die ich nach Ostfriesland hole. Der Brief endete mit dem Satz: „Früher hätte man solche Nestbeschmutzer bei Nebel ins Watt gejagt.“
An der Küste weiß jeder, was damit gemeint ist. Bei Nebel kommt man nicht lebend aus dem Watt.
Unser Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte: „Wo die Sprache verroht, ist die Straftat nicht weit.“ Er bezog sich hierbei auf den Fall Lübcke.
„Auschwitz hat nicht in Auschwitz begonnen, sondern überall dort, wo Menschen ausgegrenzt und gejagt werden“, sagt Christoph Heubner, Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees.
Die Messerattacke auf die Kölner Oberbürgermeisterin hatte ein Vorspiel durch öffentliche Verunglimpfung. Da wurde jemand zum Abschuss freigegeben. Es war dann nur noch eine Frage der Zeit, bis ein Verstörter diese Gewaltphantasien als Auftrag betrachtete und sich auserwählt fühlte, den Volkswillen zu vollstrecken.
Andreas Hollstein, Bürgermeister der Kleinstadt Altena, wurde 2017, nach vorausgegangenen öffentlichen verbalen Angriffen, Opfer einer Messerattacke. Ihm wurde in den Hals gestochen. Er überlebte nur knapp.
Nun, 2019, ist Walter Lübcke, der Regierungspräsident des Regierungsbezirks Kassel, aus nächster Nähe erschossen worden. Die Meute im Internet jubelt dazu und wünscht sich „noch mehr davon“. Auch bei ihm begann es mit einer großen öffentlichen Verunglimpfung.
Es beginnt immer damit, dass Schmähschriften verfasst, Menschen herabgewürdigt, ja, zu Unpersonen gemacht werden. Es wird immer möglich durch unangebrachte Toleranz gegenüber solch unanständigem Verhalten.
Das alles hat mit Meinungsfreiheit oder gar Pressefreiheit überhaupt nichts zu tun. Im Gegenteil. Hier sollen Menschen mundtot gemacht werden, ja, sie sollen Angst um ihr Leben haben und dann verschwinden.
Im Leserbrief von Herrn Brauer ist nicht nur der Appellcharakter herauszulesen, sondern auch schon die klammheimliche Vorfreude auf meine Vertreibung, ja Tötung.
Nun, ich werde bleiben. Viele betroffene Kollegen und Lokalpolitiker ducken sich weg, verstummen und hoffen, dass der Kelch an ihnen vorübergeht. Ich kämpfe hier auch für viele Kollegen der schreibenden Zunft, für Ehrenamtler und Politiker, die in so einem Klima keine Lust mehr haben, sich öffentlich zu äußern oder zu zeigen. Wirkliche Freiheit, die Freiheit der Kunst, wird plötzlich zum Risiko.
Der Chefredakteur der Ostfriesen-Zeitung entschuldigte sich bei mir dafür und sagte, der letzte Satz hätte nicht gedruckt werden dürfen. Damit ist die Sache für mich zwischen der Zeitung und mir erledigt und aus der Welt geschafft.
Mein Rechtsanwalt Wolfgang Weßling hat Herrn Brauer eine Unterlassungserklärung zugeschickt, Herr Brauer war allerdings nicht bereit, sie zu unterschreiben. Ich muss also damit rechnen, dass es weitergeht. Deswegen hat mein Anwalt eine Klageschrift verfasst und ans Landgericht Aurich geschickt.
Das Präsidium des PEN-Zentrums Deutschland stellt dazu fest:
Die Kunst ist frei, und sie darf frei kritisiert werden. Die vom PEN verteidigte Meinungsfreiheit schließt das Recht ein, Unfug zu äußern. Klaus-Peter Wolf ist offenkundig kein Nestbeschmutzer, sondern im Gegenteil ein bekannter und beliebter Künstler, der Ostfriesland Ehre macht - aber darum geht es nicht. Die Grenze zwischen zu ertragenden und unerträglichen öffentlichen Äußerungen wird genau da überschritten, wo die Würde der Person und die Freiheit der Kunst und Meinungsäußerung verletzt werden.
Der – erkennbar rechtfertigende und mithin als Entschuldigung, wenn nicht gar als Aufforderung zu lesende – Hinweis, dass man Andersdenkende früher ermordet hätte, verwirklicht das genaue Gegenteil von Meinungsfreiheit. Es handelt sich um eine Todesdrohung, die einschüchtern und freies Sprechen verunmöglichen soll.
Der PEN beobachtet die Verrohung des öffentlichen Sprechens, vor allen in den sozialen Medien, mit wachsender Sorge. Seriöse Presseorgane wie die Ostfriesen Zeitung dürfen Hetze und Gewaltdrohungen keine Bühne bieten. Wir stehen solidarisch an der Seite unseres Kollegen Klaus-Peter Wolf.
So schrieb Heinrich Peuckmann, der Generalsekretär des PEN-Zentrums.
Auch die Vorsitzende des PEN-Clubs, Regula Venske, rief bei mir an und zeigte sich erfreut darüber, dass endlich einer sagt: „Schluss, bis hierhin und nicht weiter, hier wurde eine Grenze überschritten.“ Viele Künstler sind in vergleichbaren Situationen wie ich. Einige ziehen sich aus der Öffentlichkeit zurück, ja, wechseln ihren Wohnort, andere trauen sich nur noch unter Pseudonym zu veröffentlichen. So warten viele Künstler in Deutschland darauf, dass ein Gericht nun eine klare Trennungslinie zieht. Die Entscheidung in Aurich hat eine große Bedeutung für viele Menschen im Land und hat deshalb eine große öffentliche Aufmerksamkeit.
Ich bin mir natürlich im Klaren darüber, dass man mir vorwerfen wird, ich versuche, Kritiker mundtot zu machen, würde mich wie eine Mimose verhalten und sei unfähig, Kritik zu ertragen. Durch mein bisheriges Leben habe ich, glaube ich, das Gegenteil bewiesen. Aber ich habe häufig Debatten angestoßen. Ich hoffe, dass mir genau dies auch jetzt gelingt. Ich streite hier für einen anständigen Umgang miteinander.
Klaus-Peter Wolf